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Zwei Wasserkästen oder ein mittelgroßer Labrador

6. Sept. 2024

4 Min. Lesezeit

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Zwei Wasserkästen oder ein mittelgroßer Labrador wiegen 34kg.

Mit 34 kg wurde ich nach einer Wirbelsäulenoperation aus dem Klinikum entlassen



14.04.1998

Dieses Datum werde ich nie vergessen, auch wenn ich selbst keine Erinnerung mehr an den Tag habe. Ich war 14 Jahre alt. Eine Woche zuvor wurde ich stationär im Klinikum aufgenommen für eine große Wirbelsäulenoperation. Wegen meiner Skoliose war meine Wirbelsäule mittlerweile so stark verkrümmt, dass ich nicht mehr gerade sitzen konnte und die Gefahr bestand, dass sie andere Organe einengt und verschiebt. Die OP: Begradigung der Wirbelsäule so weit wie möglich und eine Versteifung mit zwei Stangen und Schrauben vom 4. Brustwirbel bis zum 4. Lendenwirbel. https://www.glueckshummeln.com/skoliose


Ich erinnere mich weder daran, große Angst gehabt zu haben, noch daran, was ich in diesen Momenten gedacht habe. Wahrscheinlich habe ich Erinnerungslücken aufgrund der vielen traumatischen Erlebnisse, die mich im Leben begleitet haben. Auch an den Tag vor der OP und mindestens eine Woche danach habe ich keinerlei Erinnerungen.


Aus Erzählungen weiß ich: Die ursprünglich geplante OP fand statt, dauerte 6 Stunden und war erfolgreich. Es war keine einfache und kleine Operation, besonders nicht zu dieser damaligen Zeit. Während der OP wurde meine Lunge verletzt, wodurch ich danach Blut und Wasser in der Lunge hatte. Ich bekam eine Drainage und musste wochenlang Atemübungen machen. Zudem bekam ich starke Koliken, eine Bauchspeicheldrüsenentzündung und Nierensteine.


Zunächst lag ich eine Woche auf der Intensivstation. Wegen der Koliken hatte ich so starke Schmerzen, dass sie mich wohl einmal aufgesetzt haben. Das war gut für den Darm, aber eine echte Herausforderung direkt nach einer so großen OP an der gesamten Wirbelsäule. Dabei habe ich wohl Sprüche losgelassen wie: „Die Schwester ist ein Ar***loch.“ Oder: „Mach das Fenster auf, ich springe jetzt hier aus dem 14. Stockwerk.“ Außerdem habe ich so lange darauf bestanden, einen Fernseher im Zimmer zu haben, dass sie irgendwann einen hereinrollten. Natürlich konnte ich nichts sehen, ich musste gerade liegen und war unter starken Schmerzmitteln.


Das Erste, woran ich mich wieder erinnere, ist der Moment, als ich mit meinem Bett auf die Normalstation in mein Zimmer gefahren wurde. Es war ein Vierbettzimmer mit drei anderen Kindern. Trotz allem hatten wir unseren Spaß. Wir fanden den Zivildienstleistenden total süüüß (14-jährige Mädels). Keiner von uns konnte aufstehen. Eine Bauchspeicheldrüsenentzündung ist lebensgefährlich, aber das war mir damals nicht bewusst. Auf meinem Essenstablett stand immer „gastroenterologische Basisdiät.“ Diesen Aufkleber sehe ich noch vor mir. Ich führte endlose Diskussionen mit dem Pflegepersonal, wann ich endlich wieder einen Kaugummi kauen oder ein Bonbon lutschen darf. Ich kann gut diskutieren, wenn ich Hunger habe.


Da ich noch schulpflichtig war, bekam ich irgendwann auch Schulunterricht. Ja, man bekommt Unterricht, selbst wenn man im Krankenhaus liegt. Eine Lehrerin kam immer ans Bett. Viel erinnern kann ich mich daran nicht, außer dass ich absolut keine Lust darauf hatte. Das Klinikum war 600 km von unserem Wohnort entfernt. Die ersten vier Wochen nahmen meine Eltern ihren Jahresurlaub und übernachteten in der Nähe des Klinikums. Danach mussten sie zurückfahren. Der nächste Moment, an den ich mich erinnere: Ich im OP-Hemd, mein Opa war zu Besuch, und ich konnte wieder meine ersten Schritte gehen. Von diesem Tag an musste ich täglich üben. Ich drehte meine Runden um den Pflegerstützpunkt. Ständig kippte ich zur Seite oder lief, als hätte ich einen Prosecco getrunken. Nun ja, ich war plötzlich 5 cm größer, und mein Gleichgewichtssinn war etwas durcheinander. Ihr glaubt gar nicht, was 5 cm ausmachen. Noch lange danach bin ich immer etwas unsanft auf dem Toilettensitz gelandet, weil ich mich verschätzt habe.


Nach sieben Wochen wurde ich entlassen, auch wenn die Ärzte mich eigentlich noch nicht gehen lassen wollten. Nicht wegen der Wirbelsäulenoperation, sondern weil ich durch die Bauchspeicheldrüsenentzündung und Diät so viel Gewicht verloren hatte. Schon früher war ich immer untergewichtig, aber dieses Mal verließ ich das Krankenhaus mit 34 kg bei einer Größe von 1,69 m. Aber ich hatte schon eine Einkaufsliste, was ich alles essen werde, wenn ich wieder essen darf.


Sehr ausgewogen :)


Ich freute mich so sehr auf zu Hause. Der Krankenwagen brachte mich nach Hause, begleitet von zwei Rettungsdienstlern. Das Highlight: Wir hielten bei McDonald’s an. Die beste Mahlzeit nach sieben Wochen gastroenterologischer Basisdiät. Es dauerte noch eine Weile, bis ich an Gewicht zunahm, und vier Wochen später wurde ich, zumindest in der Nähe meines Wohnorts, erneut stationär aufgenommen, um meine Kalorienzufuhr zu überwachen. Die Ärzte drehten plötzlich durch und wollten mir und meinen Eltern weismachen, ich leide an Magersucht. Eine ernste Krankheit, keine Frage, aber das war nicht mein Problem. In so vielen Arztbriefen stand, dass mein Vater mich oft gegen ärztlichen Rat aus dem Krankenhaus entlassen hat oder auf diese Diskussion nicht eingegangen ist. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich hatte genug andere Dinge zu verarbeiten. Trotzdem wollte ich so schnell wie möglich wieder zur Schule. Doch das nächste Schuljahr verbrachte ich oft so: zwei Stunden im Klassenzimmer, zwei Stunden liegend im Krankenzimmer und dann wieder zwei Stunden im Klassenzimmer. Ich marschierte morgens immer mit meinem Kissen in das Klassenzimmer. Bekleidet mit einem möglichst weitem Hemd, da ich nun sehr, sehr dünn aussah.


Bis Mitte 20 habe ich viele Tagebücher geschrieben. Darin erwähne ich mit keinem einzigen Wort, wie belastend das alles für mich war, wie schlecht es mir zwischendurch ging oder welche Herausforderungen ich bewältigen musste. Alles habe ich schön in meine „Box“ gepackt und nicht mehr bewusst wahrgenommen. Diese Box habe ich bis heute, 36 Jahre lang. Seit der ersten Diagnose und dem Korsett. Was alles in dieser Box ist, wie ich es immer wieder schaffe, noch mehr hineinzupacken und sie auch zu verschließen – das versuche ich gerade herauszufinden und einen kleinen Blick hineinzuwagen. Den Anfang finde ich allerdings noch nicht.




 

6. Sept. 2024

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